Sich einem Behinderten gegenüber »ganz normal« zu verhalten, fällt vielen schwer. Diese Erfahrung hat auch David gemacht. Sarina Märschel hat ihn und seine Familie besucht.
Davids Finger gleiten leicht und schnell über die winzig kleinen Löcher der Sopranino-Flöte. Die Flöte passt zu David wie Punsch zu kalten Winterabenden: perfekt. Denn Davids Finger sind schmal genug für die kleinen Öffnungen des zierlichen Instruments. Aber nicht nur die Finger, alles an David ist sehr schlank, viel schlanker als bei anderen Jugendlichen. Das ist so, weil David kaum Muskeln hat. Die Ärzte nennen das »congenitale Myopathie«, eine angeborene Muskelerkrankung. Davids Körper ist nicht in der Lage, genug Muskelgewebe zu produzieren – da hilft auch Bodybuilding nichts.
»Irgendwie schaffen wir das«
Deshalb kann er auch nicht laufen. David sitzt im Rollstuhl, seit er denken kann. Inzwischen ist er 13 Jahre alt, besucht das Gymnasium, liebt das Pfadfinder-Sein und spielt leidenschaftlich gerne auf seinen vier Flöten. Soweit unterscheidet sich sein Leben nicht wesentlich von dem anderer Teens. Aber seine Behinderung beeinflusst Davids Tagesablauf in vielen kleinen und großen Dingen: Statt vom Schulbus wird er morgens vom Fahrdienst des Roten Kreuzes abgeholt. Krankengymnastik gehört zum Alltag. Und Aktionen wie das Pfadfinder-Zeltlager im Sommer sind mit Rollstuhl und Beatmungsgerät ziemlich kompliziert.
In Situationen wie diesen sagt David: »Irgendwie schaffen wir das«, und es klingt, als ob er das auch so meint. David und seine Eltern Debora und Christof wissen, was kämpfen heißt: Kämpfen mussten sie zum Beispiel dafür, dass David eine normale Schule besuchen darf. Eigentlich hätte er auf eine Behindertenschule gehen sollen. Aber seine Eltern wollten, dass ihr Sohn eine ganz normale Ausbildung bekommt wie seine beiden Brüder Lukas und Josef eben auch. Und es hat geklappt. In der Grundschule begleitete ihn immer ein Zivildienstleistender. Jetzt im Gymnasium helfen ihm seine Klassenkameraden und zwei ältere Schüler, die er sogar aus dem Unterricht rausklingeln darf, wenn er Hilfe braucht.
Nicht einsam
Durch Zufall ist David nicht der einzige Rolli-Fahrer in der Klasse: Eine Klassenkameradin kann auch nicht laufen. Außer ihr kennt David aber kaum andere behinderte Teens. Das liegt daran, dass es nicht so viele jugendliche Behinderte gibt. Nur 3,8 Prozent aller Schwerbehinderten sind unter 25 Jahre alt. Und die wenigsten Behinderungen sind angeboren - nur bei knapp fünf Prozent der Schwerbehinderten ist das so.
Einsam fühlt sich David deshalb nicht: Seine Klassenkameraden stehen voll und ganz hinter ihm, verteidigen ihn, wenn blöde Sprüche kommen und schieben den Rollstuhl beim Wandertag auch den steilsten Berg hoch. Wütend macht es ihn, wenn Leute ihn anstarren, »oder noch schlimmer: Zwei stellen sich hin und unterhalten sich über mich, so als wäre ich ein Museumsstück.« Wenn jemand interessiert ist und ihn deshalb fragt, warum er im Rollstuhl sitzt, beantwortet David diese Frage aber gerne. Er freut sich auch, wenn ihm jemand Hilfe anbietet: »Wenn die Leute so Angsthasen sind, ist es manchmal schwer, denen zu erklären wie genau sie helfen sollen. Manche trauen sich gar nicht recht, mich anzufassen und dann ist es kompliziert.«
Warum?
Nichtbehinderte finden es oft schwierig, mit Behinderten umzugehen. Brigitte Moosbrugger vom Verein »Christ und Behinderung« in Österreich sitzt selbst im Rollstuhl, kann das Problem aber trotzdem gut verstehen: »Ich bin auch manchmal unsicher, wenn ich jemandem begegne, der schwerer behindert ist als ich«, gibt sie zu. Das beste Rezept um mit Behinderten umzugehen ist, dem Menschen so zu begegnen wie jedem anderen auch, findet Brigitte Moosbrugger. »Ich weiß, das ist leicht gesagt. Mir hilft es, wenn ich mir vor Augen halte, dass dieser Mensch in Gottes Augen nicht mehr und nicht weniger geliebt, wertgeachtet und angenommen ist als ich. Vielleicht ist es auch eine Hilfe, sich selbst zu fragen: Wie möchte ich behandelt werden, wenn ich in dieser Situation wäre?«
Eine Frage, die ziemlich schnell kommt, wenn es um Behinderungen geht, lautet: Warum lässt Gott das zu? Was sagt Gott zu Behinderten? »Ich denke, er sagt zu uns nichts anderes als zu allen seinen Kindern – er liebt uns mit unendlicher Liebe und möchte, dass wir im Vertrauen auf seine Hilfe unser Leben in die Hand nehmen«, antwortet Brigitte Moosbrugger darauf. Die Frage nach dem »Warum?« war für sie nie ein echtes Problem. »Ich bin mir sicher, dass Gott mich gewollt hat und dass er meine Behinderung aus irgendeinem Grund zugelassen hat, den ich nicht weiß.« Sie ist überzeugt, dass die Menschen heute in einer gefallenen Schöpfung leben. Das heißt, dass durch die Schuld der Menschen heute nicht mehr alles so gut ist, wie es Gott mal perfekt geschaffen hat. »Aber der Herr gibt auch die Kraft mit den verschiedensten Lebensumständen zu leben«, ergänzt sie. »Jeder hat seine Probleme und Schwierigkeiten, der eine unsichtbar, der andere sichtbar.«
Ein bisschen traurig
David kommt mit seiner Behinderung ziemlich gut zurecht: »Ist halt so. Eigentlich mach ich mir nicht viel draus.« Nur manchmal, da ist er dann schon ein bisschen traurig. Zum Beispiel darüber, dass er nicht laufen kann und dass er sich von den Ärzten immer wieder pieksen lassen muss. Dass die Leute ihn wegen der Behinderung nicht mochten, kam aber noch nie vor. David findet schnell Freunde. Und nach kurzer Zeit fällt es denen gar nicht mehr auf, dass er behindert ist.
Text_Sarina Märschel war ganz schön beeindruckt von David und seiner Art, mit der Behinderung umzugehen.
Regeln fürs Zusammenleben
Behinderte und Nichtbehinderte des Arbeitskreises »Begegnung 2002« haben gemeinsam zehn Regeln für das Zusammenleben von Nichtbehinderten und Behinderten aufgestellt:
1. Du sollst in erster Linie den Menschen und nicht seine Behinderung sehen.
2. Du sollst mich annehmen, wie ich bin und mich nicht immer ändern wollen.
3. Du sollst mich fragen und nicht andere, wenn du etwas über mich wissen willst.
4. Du sollst mich ernst nehmen, auch wenn du meinst, mir etwas voraus zu haben.
5. Du sollst mir die Zeit lassen, die ich länger brauche.
6. Du sollst dich freuen, wenn ich deine Hilfe nicht in Anspruch nehme und es selber kann.
7. Du sollst meine Bemühungen unterstützen, aber mir keine Entscheidungen abnehmen.
8. Du sollst mich nicht verspotten, ich fühle genau wie du.
9. Du sollst immer daran denken, mein Schicksal könnte bald auch deines sein.
10. Du sollst mich so behandeln, wie du behandelt werden willst.
Kontaktadressen
Für Deutschland:
- INTRA, c/o Roland Walter, Alt-Lankwitz 43c, 12247 Berlin, fon: 030/77 00 60 31, www.cvjm-sachsen-anhalt.de/intra
- Internet-Seite des Bundesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen in Deutschland: www.behindertenbeauftragter.de
Für die Schweiz:
Glaube und Behinderung, c/o Ruth Bai-Pfeifer, Mattenstr. 74, 8330 Pfäffikon, fon: 044 950 64 58, www.gub.ch
© teensmag 2/2003 - copyright teensmag, CH-Pfäffikon ZH, www.teensmag.net |