Dunkelheit -
Finsternis -
schwarze Schatten -
schwerer Vorhang -
kein Licht -
alles dreht sich und dreht sich immer schneller ...
Bremsen quietschen, ein Auto hupt. -
»Mensch, kannst du nicht aufpassen? Du hast rot. Beinah wärst du mir vors Auto gelaufen. Hör auf zu träumen und mach die Augen auf.«
Das Auto fährt weiter.
Und die Augen sind immer noch zu.
Es nützt ja doch nichts sie zu öffnen. -
Drehe mich um und geh nach Hause.
Nach Hause.
In mein Zimmer.
Unter meine Bettdecke.
Dort ist es dunkel.
Sowieso dunkel.
War es ein grünes Auto?
Grün, was ist grün?
Die Tür geht auf. »Leah, ich gehe mit dem Kleinen in den Park zum Spielplatz. Komm doch mit!« Park, Spielplatz, kreischende Kinder, dort, wo sich wieder alles dreht ...
»Nein, ich bleibe lieber hier,« sage ich. »Schade ...«, sagt sie und schließt die Tür. Hat wieder mal nicht gemerkt, dass ich draußen war. Oder hat sie mich gesehen und nichts gesagt?
Der Arzt hat gesagt, ich müsse lernen alleine zurecht zu kommen. -
Warum habe ich dem Autofahrer nichts gesagt?
Nein, auf Mitleid kann ich verzichten.
Aber er hatte doch kein Recht mich anzuschreien.
Hasse ihn, genau wie meinen Bruder. 2 Jahre alt. Sie zeigt ihm Dinge und bringt ihm bei sie auszusprechen. Er plappert alles nach.
Und sieht sie.
Baum. Hund. Sonne.
Was ist ein Baum?
Welche Farbe hat der Hund?
Und die Sonne?
Bekomme keine Luft mehr. Lege die Decke an die Seite. Nichts ändert sich. Ein kühler Luftzug streicht durchs Zimmer. Das Fenster ist offen. Greife auf meinen Nachttisch. Dort liegt es, das Buch. Will es nehmen, aber kann es doch nicht lesen. Keine Lust die Schrift zu lernen.
Es schellt an der Tür. Wer kann das sein? Sie hat doch sicherlich einen Schlüssel mitgenommen. Gehe zur Tür, hänge die Kette ein und öffne vorsichtig.
»Hallo! Du musst Leah sein.« Wer ist das? Kenne die Stimme nicht. Keiner sagt etwas. Es klingt wie ein Junge. Noch nicht sehr alt. Vielleicht so um die fünfzehn. »Was guckst du denn so?« Wenn der wüsste ... »Oh, du kennst mich wahrscheinlich nicht. Ich heiße Felix und bin mit meinen Eltern letzten Dienstag in das Nachbarhaus gezogen. Hab dich vorhin ins Haus gehen sehen und da habe ich gedacht, ich schau mal vorbei und stelle mich vor.« Taste nach der Kette und öffne die Tür ein Stück weiter. »Ich wollte fragen, ob du nicht Lust hast ein Stück mit mir spazieren zu gehen. Dann können wir uns ein bisschen besser kennen lernen.«
»Ich kann nicht.«
»Warum denn nicht? Es ist so schönes Wetter draußen.«
Auf Widerworte bin ich nicht vorbereitet.
Aber der Junge klingt eigentlich ganz nett.
Aber nein, es geht nicht.
»Ich kann nicht, weil ...«
Warum ist es bloß so schwer es auszusprechen?
»Du kannst nicht, weil du blind bist?«
Ich bin verwirrt. -
»Das ist doch wohl kein Grund. Außerdem wäre es echt schade, denn alleine kann ich auch schlecht spazieren gehen und es macht nur halb so viel Spaß. Also, was ist?«
Zeit habe ich ja zur Genüge. Aber ich habe Angst. Außerdem hat mich noch nie jemand gefragt, ob wir spazieren gehen. Andererseits, warum nicht?
Plötzlich drehe ich mich um, suche nach meiner Jacke und dem Schlüssel und schließe die Tür zu. »Na prima.« sagt Felix. Habe es gewagt Plötzlich höre ich wieder Reifenquietschen. Zucke zusammen.
»Oh, diese Fliesen auf dem Boden sind aber auch ziemlich glatt.«
»Wieso quietschen denn hier Reifen?« Das muss wohl sehr komisch geklungen haben, denn Felix fängt an zu lachen. »Ach, ich Dummkopf. Du weißt ja gar nicht, dass ich im Rollstuhl sitze.«
Rollstuhl? Alles fängt wieder an sich zu drehen. »Du ... du ... sitzt im Rollstuhl?« stammle ich. »Ja, seit vier Jahren. Ich habe eine schwere Muskelkrankheit. Sie bilden sich immer weiter zurück. In den Beinen fing es an, deshalb kann ich nicht mehr laufen. Aber jetzt komm. Lass uns nach draußen gehen.«
Bin immer noch wie vor den Kopf gestoßen, folge ihm aber durch den Flur und die Haustür nach draußen.
»Wo wollen wir hingehen?« »Ich weiß nicht.« »Was hältst du vom Hafen? Ich liebe Schiffe.« »Ja, gut.« »Kannst du mich vielleicht schieben? Dann könntest du dich am Rollstuhl festhalten und ich bräuchte meine Arme nicht so anzustrengen.« »Ja, ja klar.«
Erleichterung. Hatte schon wieder Angst so weit durch die Straßen zu laufen. So »gehen« wir also durch die ganze Stadt und es klappt wirklich gut. Ich schiebe seinen Rollstuhl und er dirigiert mich durch die Gassen. Zum ersten Mal seit langem macht mir wieder etwas richtig Spaß.
Währenddessen erzählt mir Felix aus seinem Leben. Wo er früher wohnte, welche Schule er besucht, von seiner Krankheit und so weiter. Und dann kommt sie, die Frage. Sie muss ja irgendwann kommen.
»Warum bist du eigentlich blind?« Stille. »Leah?« Immer noch Stille. Dann ein leiser Versuch. »Ich ... ich ... bin seit meiner Geburt blind, angeborener Augenfehler.«
Bin gefasst darauf, dass wieder so ein Satz kommt wie: »Oh, das tut mir aber leid.« Obwohl es gar nicht stimmt. Außerdem, was habe ich von anderer Leute Mitleid? -
Doch nichts dergleichen.
Felix lacht: »Dann sind wir ein klasse Team. Findest du nicht?« Bei ihm muss man wirklich auf alles gefasst sein. Bin aber froh, dass er keine weiteren Fragen mehr stellt. Höre, wie die Kirchenuhr siebenmal schlägt. »Oh, ist das schon spät? Ich muss nach Hause.« »Mensch ich auch. Also, dann umdrehen und nichts wie zurück.«
Es ist halb acht, als wir endlich wieder vor unseren Häusern ankommen. »Leah, der Tag hat mir richtig Spaß gemacht« »Mir auch, Felix.« »Hast du morgen wieder Zeit?« Ich überlege. Doch alle Ängste scheinen verschwunden zu sein. »Klar. Also dann bis morgen!« »Ich hol dich ab,« ruft Felix mir noch hinterher.
Als ich die Wohnungstür aufschließe, höre ich schon ihre aufgeregten Stimmen. »Harald, wo kann sie nur sein?« Betrete die Küche. »Leah, Kind, wir haben dich überall gesucht.« »War mit Felix von nebenan am Hafen.« »So weit weg?«, meint mein Vater. »Ja und es war wunderschön,« erwidere ich und seit langer Zeit huscht mir mal wieder ein Lächeln übers Gesicht. »Es war der schönste Tag seit langem.«
Nicht nur der schönste Tag, sondern auch der schönste Sommer. Felix und ich verbringen fast jeden Tag zusammen. Höre meine Mutter wieder öfter lachen. Macht sich nicht mehr so viele Sorgen.
Felix erzählt mir auf unseren Streifzügen alles, was er sieht und beschreibt mir vieles bis ins kleinste Detail. Betrachte zum ersten Mal wieder die Welt um mich herum. Auf meine Art ...
Ich helfe Felix bei Dingen, die er nicht bewältigen kann. Hole ihm zum Beispiel Sachen aus einem hohen Regal oder ziehe ihn rückwärts eine Treppe hoch. Alles ist wunderbar.
Wir sitzen mal wieder am Hafen und »betrachten« die Schiffe. Felix kramt in seiner Tasche und liest mir aus seinem Lieblingsbuch vor.
Von Mark Twain.
Wieder die gleiche Stelle.
Den einen Satz: »Freundschaft ist eine Sprache, die Taube hören und Blinde sehen können.«
Glück?
Was ist Glück?
Das ist Glück ...
Bis zu dem einen Morgen. Dem Morgen.
Höre früh morgens jemanden die Wohnung betreten. Zu früh. Lege mein Ohr an die Zimmertür und höre Felix' Mutter in unserer Küche. Sie weint. Höre nur noch, wie sie sagt: »Er war den Sommer über doch so glücklich. Wir dachten, die Krankheit wäre zum Stillstand gekommen. Und jetzt das ... Sagen Sie es Leah? Ich bringe es nicht übers Herz.«
Dann beginnt wieder alles sich zu drehen. Habe dieses Gefühl lange nicht gespürt. Merke nur noch, wie mein Kopf gegen die Zimmertür schlägt ...
Felix hat mir eine Abschiedskassette aufgenommen. Zwei Tage vor seinem Tod. Muss gemerkt haben, dass es zu Ende geht, dass er immer schwächer wurde. Habe nichts gemerkt oder wollte nichts merken?!
Lasse seine Kassette abspielen: »Liebe Leah! Wenn du diese Kassette hörst, werde ich nicht mehr da sein. Aber ich wollte nicht gehen ohne mich von dir zu verabschieden. Ich habe früher nie richtige Freunde gehabt. Weil ich im Rollstuhl sitze, wollte keiner etwas mit mir zu tun haben. Nur dir war es egal. Dafür will ich mich bedanken. Für den schönsten Sommer seit langem. Dein Felix. Und vergiss nie, dass blind zu sein kein Grund ist, das Leben nicht in vollen Zügen zu genießen.«
Sie öffnet die Tür, schalte den Rekorder aus. »Ich wollte ein bisschen spazieren gehen. Kommst du mit?« Stille -
»Ich komme gleich.«
Es ist, als habe Felix mir ein Stück Licht geschenkt.
Und darauf werde ich aufpassen.
Dass es ja nie wieder erlischt.
Kurzgeschichte_Andrea Stoppel, 19, Siegerin des teensmag-Kurzgeschichtenwettbewerbs.
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